Achtsam zu sein, liegt bei vielen nach dem persönlichen Glück suchenden Menschen derzeit im Trend. Zur Achtsamkeit gehört, sich der aktuellen Vorgänge in einem selbst und um einen herum besonders bewusst zu werden und dieses Bewusstsein nicht mit Wertungen zu belasten. So soll ein Zustand der geistigen Klarheit entstehen, der leichter zu einer Glückserfahrung führt als der Zustand, in dem wir uns befinden, wenn wir unseren Alltag unbewusst erleben und von nicht enden wollenden, ständig wertenden Gedanken geplagt werden.
Klingt irgendwie logisch. Hat aber wohl auch etwas mit der zur Verfügung stehenden Zeit zu tun, wenn man sich aus dem hektischen Alltagstrott verabschieden und einem eher meditativen Umgang mit der Gegenwart zuwenden will. Ich weiß nicht, ob es nicht von einer gewissen Arroganz zeugt, wenn man meint, das beispielsweise berufstätigen Eltern mit zwei schulpflichtigen Kindern, die sich täglich bemühen, den ganz normalen Alltagswahnsinn zu überleben, empfehlen zu müssen.
Wenn wir in diesem Zusammenhang etwas über Politik schreiben wollen, könnten wir anmerken, dass es Politikern wirklich nicht schaden würde, wenn sie sich um ein gewisses Maß an Achtsamkeit gegenüber der Gesellschaft, die sie umgibt, bemühen würden. Die Achtsamkeit, die ich hier meine, ist nicht diejenige, die auf so vielen Wahlplakaten unterschiedlichster Politiker mit der Fähigkeit zum Zuhören beschrieben wird und die in Wirklichkeit eher deren Planlosigkeit als deren Wissen um Gestaltungsnotwendigkeiten zum Ausdruck bringt. Die Achtsamkeit, die ich hier meine, ist die des unbemerkten und unbewerteten Schauens, Hörens und Beobachtens von Gesellschaft. Das wäre mal was.
Sind Sie schon einmal in einem Straßencafé gesessen und haben unbemerkt dem Gespräch am Nachbartisch gelauscht und sich gefragt, was die Personen am Nachbartisch bewegt, über das zu sprechen worüber sie sprechen und das zu sagen, was sie sagen? Wenn ja, dann hatten Sie vielleicht auch die Wahrnehmung, dass es nicht nur ihre eigene Wahrheit auf diesem Planeten, sondern viele ganz verschiedene Wahrheiten gibt. Für jeden Menschen sieht sie ganz anders aus und jeder ist von seiner eigenen Wahrheit überzeugt.
Haben Sie schon mal dem Gespräch unter Jugendlichen in der Umkleidekabine eines günstigen Fitnesscenters gelauscht? Auch das kann überaus interessant sein, wenn man es schafft, sich eigener Wertungen zu enthalten.
Der Alltag von Politikern lässt wahrscheinlich keine Achtsamkeit gegenüber unserer Gesellschaft zu. Zu sehr dürfte ihr langer Arbeitstag von Gesprächen unter Politikern, von Reden vor wichtigen Meinungsträgern und von Gesprächen mit Lobbyisten geprägt sein. Zu sehr dürften die eigenen Gedanken über den jeweils nächsten politischen Schritt im Zentrum stehen. Wahrscheinlich ist es schon ein Glück, wenn noch so viel politisch unbelastete Zeit für die eigene Familie übrig bleibt, dass diese auf Dauer zusammen gehalten werden kann.
Da verwundert es nicht, dass viele in der Gesellschaft den Eindruck haben, dass die Verbindung zwischen dem Volk und den Politikern längst abgerissen ist. Wie aber kann ein Politiker überhaupt noch „einer von uns“ sein, wenn er gar keine Zeit mit uns verbringt oder in der wenigen Zeit mit uns über keine Möglichkeit einer wertfreien Beobachtung verfügt, sondern sich mit Wertungen anderer „zumüllen“ lassen muss?
Wir alle stellen uns den idealen Politiker so vor, dass er durch eigene Beobachtung weiß, was uns bewegt und dann zu jenen seltenen Menschen gehört, die aufgrund ihrer Beobachtungen einen eigenen Plan davon haben, wie sie unsere Gesellschaft zu unser aller Wohl weiterentwickeln wollen.
Die Wirklichkeit mit unseren Berufspolitikern sieht anders aus. Manche von ihnen können noch nicht einmal auf die Lebenserfahrung eines politikfremden Berufs zurückgreifen. Und viele von ihnen sind weit davon entfernt, zu wissen, wie es den normalen Menschen geht und was sie selbst für unsere Gesellschaft eigentlich genau wollen.
Vielleicht sollten wir die Möglichkeiten von Politikern, sich gegenüber unserer Gesellschaft achtsam zu verhalten, dadurch stärken, dass wir ihnen mehr Freiraum für politikfreie Zeit in unserer Mitte zur Verfügung stellen.
Zum Schluss noch ein persönlicher Tipp für die Steigerung der eigenen Achtsamkeit. Ein Tipp fürs Wochenende:
Wir alle sind ständig damit beschäftigt, in unseren Wohnungen und Häusern von einem Zimmer in ein anderes Zimmer zu laufen und dabei die verschiedensten Dinge wie Lebensmittel, Kleidung, Freizeitgegenstände und vieles andere mehr zu transportieren. Meistens versuchen wir, die Vorgänge zu optimieren und möglichst viel auf einmal mitzunehmen und am Zielort abzuliefern. Schließlich wollen wir Zeit sparen, wie bei allem anderen auch. Manchmal sind uns dann sogar unsere zwei Hände zu wenig und dann erfinden wir noch weitere Tragemöglichkeiten, um möglichst effektiv zu handeln.
Versuchen Sie einmal, das Tragen von Dingen auf jeweils eine Sache zu beschränken und dann so oft zu gehen, bis auf diese Weise alles vom Ausgangsort zum Zielort gekommen ist. Lassen Sie sich beim Gehen Zeit, nehmen Sie die Sache, die sie tragen wahr und werten Sie die Sachen und die Anzahl der Transportwege nicht. Gehen Sie einfach immer wieder mit einer Sache in einer Hand hin und her. So lange, bis alles erledigt ist. Sie werden sehen. Sie werden sich auf diese einfache Art und Weise der Vorgänge viel bewusster und Sie kommen auch innerlich zur Ruhe. Ganz so leicht, wie es sich anhört, ist es allerdings nicht. Sich mit etwas Zeit zu lassen, verlangt in unserer hektischen Zeit mehr Disziplin als sich der allgemeinen Hektik hinzugeben. Zur Steigerung ihrer Achtsamkeit könnten Sie auch noch barfuß gehen und versuchen, die sich immer wieder ändernden Zustände unter ihren Füßen ebenfalls bewusst wahrzunehmen. Natürlich dürfen Sie an diesem Wochenende nicht unter großem Termindruck stehen. Dann wäre diese Methode unangemessen.
Nehmen Sie mir den Tipp bitte nicht übel. Ich bin durch nichts dazu autorisiert, zum Trend passende Lebenstipps zu geben. Ich fands einfach sehr positiv.
Thomas Guldenkirch (08. März 2020)