8- Demokratie

Gebrauchsanweisung für diesen Beitrag: Dies ist kein Beitrag, der sich gegen die Demokratie in Deutschland richtet. Dies ist ein Beitrag, der bestimmte Aspekte der Demokratie kritisch hinterfragt. In dem Beitrag werden zwei Vorgänge beispielhaft behandelt. Aus dem Beitrag kann nicht auf die Meinung des Verfassers bei den behandelten Vorgängen geschlossen werden.

Wir leben in Deutschland in einer Demokratie. Demokratie bedeutet, dass die Macht vom Volk ausgeht. Sie bedeutet in Deutschland bekanntlich in der Regel nicht, dass das Volk direkt entscheidet, sondern nur, dass es die das Volk repräsentierenden Entscheidungsträger durch Wahlen bestimmt (repräsentative Demokratie).

In letzter Zeit werden Politiker unseres Landes nicht müde, zu betonen, wie gut unsere Demokratie ist und dass es sich für uns lohnt, uns für den Erhalt der Demokratie einzusetzen. Auch sollten wir alle möglichst „gute Demokraten“ sein und darauf achten, dass auch aus unseren Kindern „gute Demokraten“ werden. Sehr oft wird in diesem Zusammenhang auch betont, dass Demokratie von Kompromissen leben würde. Es wird damit suggeriert, dass Demokratie zu Kompromissen führen und die Menschen durch die demokratisch gefundenen Kompromisse einander näherbringen würde.

Es darf die Frage erlaubt sein, ob es sich dabei nicht nur um eine Plattitüde handelt, die noch dazu falsch ist.

Demokratie ist alles andere als eine Methode zur friedlichen Kompromissfindung. Demokratie lebt nicht von Kompromissen, sondern von Mehrheitsentscheidungen und Mehrheitsentscheidungen können im wahrsten Sinne des Wortes grausam sein und Menschen frustriert zurücklassen. Bei Mehrheitsentscheidungen triumphiert der eine über den anderen. Es gibt Gewinner und Verlierer. Da gibt es nichts zu beschönigen.

Wenn Demokratie so gut wäre, wie uns vorgesagt wird, dann müsste sie dazu in der Lage sein, eine Gesellschaft mit dem Mittel von Mehrheitsentscheidungen zu befrieden. Genau dazu ist sie aber gerade nicht in der Lage. Wenn Demokratie so gut wäre, wie uns vorgesagt wird, dann müssten wir alle mit Herzblut „gute Demokraten“ sein, denen es ein Anliegen ist, eine demokratisch getroffene Mehrheitsentscheidung auch dann zu unterstützen, wenn man zu der Minderheit gehört, die die Abstimmung verloren hat. Genau das machen wir aber gerade nicht. Genauso wenig kümmert sich übrigens die siegreiche Mehrheit um das Wohlergehen derjenigen, die die Abstimmung verloren haben. Wenn Demokratie so gut wäre, wie uns vorgesagt wird, dann dürfte sie niemals dazu beitragen, dass es in einer Gesellschaft zu einer Spaltung kommt. Genau dazu kann sie aber beitragen.

Sehen wir zunächst nach Großbritannien und blicken wir zurück auf das Brexit-Drama, das sich dort in den letzten Jahren abgespielt hat. Das britische Volk hat in einem Referendum im Jahr 2016 mit einer Mehrheit von 52 zu 48 Prozent entschieden, aus der Europäischen Union auszutreten. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass das Referendum demokratisch abgehalten worden ist und zu einer demokratischen (vom Volk ausgehenden) Entscheidung geführt hat. Gegen die Entscheidung gab es aus der Sicht eines „guten Demokraten“ nichts zu sagen. Nur, dass die Entscheidung darüber, ob Brexit ja oder nein, eine Hopp-oder-Top-Entscheidung war, die keinem Kompromiss zugänglich ist und das die Entscheidung das britische Volk in zwei Hälften spaltete. Die eine Hälfte bildeten die bei der Abstimmung siegreichen „Brexiteers“, also die Austrittsbefürworter. Die andere Hälfte bildeten die bei der Abstimmung unterlegenen Europabefürworter, zu denen offensichtlich viele junge Menschen, die nichts anderes als ihre Europazugehörigkeit kannten, zählten. Wer glaubt, dass das britische Volk nach mehr als drei Jahren seinen Frieden mit der Entscheidung von 2016 gemacht hat, der irrt sich gewaltig. Das britische Volk ist und bleibt wohl noch auf längere Sicht gespalten und weiterer Streit innerhalb Großbritanniens ist vorprogrammiert. Dazu brauchen wir nur nach Schottland zu schauen, das wegen des Ausgangs des Referendums sogar nach Unabhängigkeit von Großbritannien strebt.

Im übrigen Europa und speziell in Deutschland wollte man die Entscheidung der Briten von 2016 nicht wahrhaben. Auch von einer Akzeptanz gegenüber der Entscheidung der Briten war nichts zu bemerken. In unzähligen Medienbeiträgen und politischen Statements wurde das Thema behandelt und in der Regel geschah das immer so, dass entweder das Zustandekommen der Entscheidung oder die Entscheidung selbst in Zweifel gezogen wurde oder so, dass über Wege nachgedacht wurde, wie die Briten von der getroffenen Entscheidung wieder wegkommen könnten. Es gab Berichte darüber, wie das britische Volk bei der Entscheidung durch Falschbehauptungen von Politikern manipuliert worden sein soll aber keinen Bericht darüber, dass vielleicht auch die Argumente der Europaanhänger nicht stimmten. Es gab Berichte über verzweifelte Europaanhänger aus Großbritannien und solche über Wähler, die ihre Entscheidung bereuten aber keine über Briten, die sich über die Mehrheitsentscheidung nach wie vor freuten. Es gab eine Menge an Schwarzmalerei in Bezug auf den Austritt der Briten aber nichts über deren sich durch den Austritt ergebenden Chancen und Möglichkeiten. Ein regelrecht medialer Shit-Storm ist über den ausgeschiedenen und weitgehend abgetauchten britischen Premierminister hereingebrochen, der das Referendum über den Verbleib Großbritanniens in die Wege geleitet hatte. Es wurde ihm übelgenommen, dass er der Verursacher der misslichen Lage sei. Aber warum? Weil er seinem Volk eine Frage zur Entscheidung im Wege der direkten Demokratie vorgelegt hat? Sollten wir uns nicht über die Möglichkeit zur demokratischen Partizipation freuen?

Von deutschen „guten Demokraten“ habe ich in der ganzen Zeit nichts gehört und nichts gesehen. Es gab kein einziges Statement eines deutschen Politikers, das von seiner bereitwilligen Akzeptanz gegenüber der in Großbritannien demokratisch herbeigeführten Entscheidung handelte. Sehr oft wurde sogar der Vorschlag unterbreitet, ein neues Referendum abzuhalten. Es ehrt die Briten, letzteres genau nicht gemacht und die getroffene demokratische Entscheidung am Ende durchgesetzt zu haben.

Das Beispiel aus Großbritannien steht für einen normalen demokratischen Vorgang. Man kann trotzdem daran zweifeln, dass dieses Stück Demokratie für die Briten von Vorteil war. Welcher Vorteil sollte damit verbunden sein, dass die demokratisch getroffene Entscheidung zu einer Spaltung des britischen Volkes aufgrund einer Zwei-Prozent-Mehrheit geführt hat?

Schauen wir nach Deutschland in das Jahr 2015 und die Entscheidung der Bundeskanzlerin, die deutschen Grenzen nicht zu schließen, als mehr als eine Millionen Flüchtlinge sich nach Deutschland aufmachten, um dort bleiben zu können. Auch das war eine dem Kompromiss unzugängliche Hopp-oder-Topp-Entscheidung und sie wurde, wenn wir die Frage der möglichen Parlamentszuständigkeit außen vor lassen, von einer auf demokratische Weise gewählten Bundeskanzlerin getroffen, die in diesem Moment und mit dieser Entscheidung sozusagen in ihrer Person die Mehrheitsmeinung im deutschen Volk repräsentierte.

Auch diese Entscheidung führte zu einer Spaltung unseres Landes in diejenigen, die für die Aufnahme der Flüchtlinge waren und deren Meinung durch die Entscheidung der Bundeskanzlerin eine Bestätigung erfahren hat und diejenigen, die gegen die Aufnahme der Flüchtlinge waren und deren Meinung durch die Entscheidung der Bundeskanzlerin eine Missachtung erfahren hat.

An dieser Spaltung hat sich, auch wenn wir das vielleicht nicht wahrhaben wollen, bis heute nichts geändert.

Nach der Entscheidung der Bundeskanzlerin war auffällig, wie sehr sich die Medien auf die Seite der Flüchtlingsbefürworter schlugen und mit einer umfangreichen Berichterstattung versuchten, ein positives Bild von den Flüchtlingen und der Situation in Deutschland zu zeichnen. Häufig wurden in den Berichten Einzelschicksale von solchen Flüchtlingen in den Vordergrund gestellt, deren Geschichte entweder anrührte oder deren Geschichte man etwas Positives für Deutschland abgewinnen konnte. Über Negatives wurde lange gar nichts und dann nur sehr zögerlich berichtet.

Schon bald erfolgte die mehrheitliche öffentliche Positionierung gegenüber jenen, die gegen die Flüchtlinge im eigenen Land waren, nur noch dergestalt, dass von deren Ängsten und Befürchtungen gesprochen und die These in den Raum gestellt wurde, dass sich diese Ängste und Befürchtungen verflüchtigen würden, wenn nur erst ein persönlicher Kontakt zu den Flüchtlingen hergestellt worden sei, bei dem man zwangsläufig seine Vorurteile verlieren und feststellen würde, wie nett und aufgeschlossen die Flüchtlinge doch sind.

In keinem einzigen Bericht und keiner einzigen politischen Stellungnahme wurde erwähnt, dass es einfach eine legitime und demokratisch zu beachtende Meinung sein konnte, gegen die Aufnahme von Flüchtlingen im eigenen Land zu sein. Die Diskreditierung der Meinung der Flüchtlingsgegner durch die Medien und durch die ganz überwiegende Politik hatte ein wirklich beachtliches Ausmaß und war von der Position eines „guten Demokraten“, der andere Meinungen als gleichwertig akzeptiert, weit entfernt.

Dass die Haltung von Flüchtlingsgegnern eine Berechtigung hat, verdeutlichen viele Umstände. So konnte Deutschland selbstverständlich souverän darüber entscheiden, ob es mehr als eine Million Flüchtlinge in sein Land hineinlässt oder nicht. Auch hätte niemand Deutschland dafür zur Verantwortung ziehen können, dass es seine Grenzen vor mehr als einer Million herannahenden Flüchtlingen verschließt. Die Flüchtlinge bedurften allesamt einer Versorgung in Punkto Unterbringung, Ernährung, Kleidung, persönlicher Betreuung, medizinischer Versorgung, Zugang zu Bildung und Ausstattung mit Bargeld. Die Versorgung bedeutete für Deutschland eine große finanzielle Belastung, die zu einem großen Teil aus Steuermitteln finanziert werden musste und die man selbstverständlich auch ablehnen konnte. Der Zustrom von Flüchtlingen aus anderen Kulturkreisen bedeutete für die deutsche Bevölkerung auch das Inkaufnehmen von Risiken, zum Beispiel in Bezug auf Kriminalität, in Bezug auf Nachteile der eigenen Bevölkerung bei der Suche nach Wohnraum und nach Arbeit, in Bezug auf Nachteile der eigenen Kinder bei der schulischen Förderung und in Bezug auf eine mit Angstgefühlen besetzte Veränderung im öffentlichen Raum. Auch gegen die Inkaufnahme dieser Risiken konnte man sein und das bedeutet mitnichten, dass man deswegen Flüchtlinge pauschal für gefährliche oder für böse Menschen hält. Der Zustrom von Flüchtlingen bedeutete auch, dass die Gefahr bestand, dass diese selbst dann in Deutschland bleiben würden, wenn durch Gerichte festgestellt worden ist, dass sie über gar kein Bleiberecht in Deutschland verfügen. Eine Gefahr, die sich längst verwirklicht hat, nachdem viele Abschiebungsbemühungen Deutschlands kläglich scheitern und damit das Scheitern unseres Rechtsstaats insoweit belegen. Auch diese Gefahr konnte man zum Anlass nehmen, die Aufnahme von Flüchtlingen abzulehnen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch noch ein anderer Umstand. Nehmen wir an, es wären nicht eine Million Flüchtlinge vor der deutschen Grenze gewesen, sondern 20 Millionen. Nehmen wir weiter an, die Aufnahme dieser Menge an Flüchtlingen hätte bedeutet, dass man die Steuern von allen Deutschen sofort um 50 Prozent hätte anheben müssen wegen der mit der Aufnahme einhergehenden finanziellen Belastungen. Nehmen wir weiter an, die Aufnahme hätte bedeutet, dass man sofort unzähligen privaten Gebäudebesitz hätte beschlagnahmen müssen, um die Flüchtlinge unterzubringen. Und nehmen wir schließlich an, die Bundeskanzlerin hätte gesagt: „Das schaffen wir nicht. Was soll ich machen?“. Wie wäre dann die Entscheidung ausgefallen? Genauso? Offene deutsche Grenzen für alle? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich wäre es zu einer Entscheidung gekommen, die zumindest für einen großen Teil der Flüchtlinge ein ungewisses Schicksal außerhalb Deutschlands inklusive der nicht auszuschließenden Möglichkeit, zu sterben, bedeutet hätte. Wahrscheinlich ist auch, dass viele der Flüchtlingsbefürworter unter diesen Annahmen ebenfalls dafür gewesen wären, zumindest einen Teil der Flüchtlinge an der Grenze abzuweisen. Genau das führt aber zu der Erkenntnis, dass sich der Unterschied der Betrachtungsweise daran festmacht, um wie viele Flüchtlinge es geht und bei welcher Anzahl von Flüchtlingen man persönlich annimmt, dass Deutschland bzw. man selbst in ernste Schwierigkeiten gerät. Die persönliche Meinungsbildung hängt demnach nur daran, wo man diese kritische Größenordnung verortet. Für den einen mag die kritische Größenordnung sehr schnell erreicht sein. Für den anderen dagegen erst sehr spät. Ein Richtig oder Falsch dazu gibt es nicht. Auch das belegt die Berechtigung einer gegen die Aufnahme von Flüchtlingen gerichteten Meinungsbildung.

Dass sich die Meinungsbildung der Flüchtlingsbefürworter halten konnte und sich nicht in großer Zahl zu einer gegen Flüchtlinge gerichteten Meinungsbildung verändert hat, liegt daran, dass nach 2015 die Zahl der zu uns kommenden Flüchtlinge stark abgenommen hat. Ein Hauptgrund dafür dürfte der Flüchtlingsdeal mit der Türkei sein, der Flüchtlinge in der Türkei zurückhält und für den Deutschland allerdings bezahlen muss. Ein weiterer Hauptgrund dürfte sein, dass auch Ungarn seine Grenzen für Flüchtlinge geschlossen und damit einen Teil der sog. Balkanroute, die von vielen Flüchtlingen genutzt wurde, dicht gemacht hat. Insgeheim können wir uns darüber freuen, auch wenn kein Politiker das zugeben würde. Tatsache ist aber, dass einfach andere das Schließen der Grenze für uns übernommen haben bzw. immer noch übernehmen. Wir sind damit zumindest Nutznießer von Grenzschließungen und als Nutznießer von Grenzschließungen kann man jenen, die vor dem Hintergrund kleiner Flüchtlingszahlen für offene Grenzen in Deutschland sind, zumindest die Frage stellen, ob sie sie es sich mit ihrer Meinung vielleicht nur in einer Wohlfühlblase gut eingerichtet haben und nicht die Gefahr sehen, dass die Blase täglich platzen kann.

Sei es wie es sei. In Wirklichkeit sind ganz genauso wie beim Brexit beide Meinungen legitim. Man konnte für und man konnte gegen die Aufnahme der Flüchtlinge sein und für beide Standpunkte nachvollziehbare und gleichermaßen berechtigte Argumente anführen. Weder ist der Flüchtlingsbefürworter ein guter Mensch und der Flüchtlingsgegner ein schlechter Mensch noch ist das andersherum der Fall. Bei Flüchtlingsbefürwortern mag die Empathie gegenüber den geflüchteten Menschen im Vordergrund stehen und die Belastung Deutschlands keine relevante Rolle spielen. Bei den Flüchtlingsgegnern mag dagegen der Wunsch nach gleichbleibenden Verhältnissen in Deutschland und in der eigenen Umgebung ohne zusätzliche Belastungen die größte Rolle spielen. Flüchtlingsbefürworter mögen optimistisch sein und dem Motto folgen, dass wir Das schaffen. Flüchtlingsgegner mögen pessimistisch sein und nicht daran glauben, dass Das zu schaffen ist. Für beide Positionen wird es ein Leichtes sein, täglich Beispiele dafür zu entdecken, dass alles genauso gekommen ist, wie es der eigenen Meinung entspricht und genau deswegen gibt es zwischen beiden Meinungen auch keinen Unterschied, was deren Berechtigung anbelangt. Beide Meinungen sind schlichtweg als gleichwertig zu akzeptieren.

Von einer Akzeptanz gegenüber der Meinung der Flüchtlingsgegner kann in Deutschland aber bis heute keine Rede sein. Es offensichtlich, dass die Flüchtlingsbefürworter, die sich mit ihrer Meinung durch die Entscheidung der Bundeskanzlerin durchgesetzt haben, inzwischen die Kraft des Faktischen für sich in Anspruch nehmen und die Ansicht vertreten, dass die Flüchtlingsgegner nach mittlerweile fast vier Jahren seit den Ereignissen von 2015 ihre ablehnende Haltung gegenüber den inzwischen hier in großer Zahl lebenden Flüchtlingen aufzugeben hätten. Die Einnahme dieser Haltung geht einher mit einer massiven Verschärfung der Tonlage. Während die Ausgrenzung der Flüchtlingsgegner anfangs rhetorisch noch relativ behutsam war und sich damit begnügte, den Flüchtlingsgegnern Ängste und Befürchtungen zuzuschreiben, wird jetzt der eigene Wunsch nach einer bunten Gesellschaft in den Mittelpunkt gestellt und allen, die dagegen sind, Fremdenfeindlichkeit bis hin zum Rassenhass attestiert. Von einer echten Demokratie, in der durch Medien und Politiker klargestellt wird, dass auch die Meinung von Flüchtlingsgegnern eine von allen zu respektierende Position ist, sind wir anscheinend Lichtjahre entfernt.

Auch stellt sich keiner die Frage, mit welchem Recht man verlangen kann, dass Flüchtlingsgegner ihre Meinung aufgeben müssen. Genau das müssen sie nämlich nicht. Sie haben nicht nur ein Recht auf ihre Meinung, sondern auch ein Recht auf den Fortbestand ihrer Meinung. Wenn ihnen dieses Recht abgeschnitten wird, leben wir faktisch nicht in einer Demokratie, sondern in einer Meinungsdiktatur. Alles, was man den Flüchtlingsgegnern zu Recht abverlangen kann, ist, dass sie sich respektvoll gegenüber jedem Menschen, also auch gegenüber Flüchtlingen, verhalten und dass sie gegenüber Flüchtlingen selbstverständlich keine Straftaten begehen.

An der durch die Entscheidung der Bundeskanzlerin zustande gekommenen Spaltung in unserem Land wird sich auch auf absehbare Zeit nichts ändern. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass aus Flüchtlingsgegnern inzwischen Flüchtlingsbefürworter geworden sind. Das mag zwar in Einzelfällen vorgekommen sein. Genauso ist es aber vorgekommen, dass engagierte Flüchtlingshelfer entnervt aufgegeben haben und den Flüchtlingen inzwischen reserviert gegenüberstehen. Wir Deutschen werden noch lange an den Folgen dieser einen Hopp-oder-Topp-Entscheidung zum Thema Flüchtlingsaufnahme leiden. Die gesellschaftliche Sprengkraft dieser einen Entscheidung war und ist enorm.

Wir dürfen uns nach der getroffenen Entscheidung auch nicht wundern, dass Flüchtlinge in unserer Gesellschaft teilweise ausgegrenzt werden. Menschen, die meinungsmäßig zu den Flüchtlingsgegnern gehören, werden sich nicht um deren Integration bemühen. Das müssen sie auch nicht machen. Wenn wir das Potenzial dieser Meinung mit 33 Prozent bewerten, dann ist der Ausgrenzungsfaktor zahlenmäßig relevant. Die Relevanz besteht keineswegs nur in Richtung der Flüchtlinge! Nein, sie besteht auch in die Richtung der Flüchtlingsgegner, weil auch diese nicht mehr an dem Gesellschaftsleben teilnehmen werden, das auf die Integration von Flüchtlingen abzielt. Wir sollten uns da nichts vormachen.

Was passiert mit den Menschen, die die Abstimmung in Großbritannien verloren haben und viel lieber in der Europäischen Union geblieben wären? Was passiert mit den Menschen, die es vorgezogen hätten, wenn Deutschland seine Grenzen für Flüchtlinge schließt und sich gegenüber Flüchtlingen insgesamt viel reservierter verhält? Sie werden ihren Standpunkt nicht aufgeben. Warum auch? Sie werden sich aber innerlich von dem etablierten Entscheidungsmechanismus und von den im Rahmen dieses Entscheidungsmechanismus verantwortlich Handelnden abwenden und wir können froh sein, wenn es bei einem inneren Abwenden bleibt. Wenn aber Menschen in großer Zahl keinen Frieden mit den durch demokratische Entscheidungen herbeigeführten Verhältnissen finden können, dann haben wir durch Demokratie auch ein Stück weit für deren Unglücklichsein im täglichen Leben gesorgt. Das mag übertrieben klingen, ist es aber in beiden Fällen, deren Auswirkungen täglich zu spüren sind, nicht.

Im politischen Leben hat die Entscheidung zur Folge, dass die CDU/CSU ihren Status als eine die Mehrheit der Deutschen repräsentierende Volkspartei verliert. Die CDU kann keine Heimat der Flüchtlingsgegner mehr sein, weil sie nicht gleichzeitig die Flüchtlingsbefürworter und die Flüchtlingsgegner bedienen kann. Die vielfachen innerparteilichen Diskussionen darüber, dass die Partei als Volkspartei ein möglichst breites Meinungsspektrum abbilden sollte, sind im Lichte des Hopp-oder-Topp-Charakters der getroffenen Entscheidung eine Illusion. Die CDU hat sich im Sinne der Bundeskanzlerin, die nie einen Hehl daraus gemacht hat, wieder so zu entscheiden, positioniert und kann das auch nicht rückgängig machen. Es liegt auf der Hand, dass es bei der getroffenen Positionierung auch um den kurzfristigen Machterhalt gegangen und der Preis der Entscheidung möglicherweise der langfristige Machtverlust ist. 

Die Versammlung der CDU/CSU hinter der Position der Bundeskanzlerin hat der AFD deutliche demokratische Wahlerfolge beschert. Die AFD ist derzeit die einzige relevante Partei, die die Meinung der Flüchtlingsgegner repräsentiert. Dass die CDU sie inzwischen aufgrund ihrer zwangsläufigen Wahlerfolge mit allen Mitteln bekämpft, ist insoweit beachtlich, als sie sich damit auch gegen viele ehemalige CDU-/CSU-Wähler stellt, denen gar keine demokratische Wahlalternative mehr übriggeblieben war. Der verbale politische Kampf gegen die AFD um Wahlprozente verstößt diese Menschen, die sich nur dadurch kennzeichnen, dass sie zu einem als wichtig empfundenen Thema eine andere Meinung haben. Von hohem demokratischen Respekt gegenüber Menschen mit anderer Meinung zeugt das nicht und die Qualität des „guten Demokraten“ kann ich darin auch nicht erkennen.

Auch die durch die Entscheidung der Bundeskanzlerin gebildete Mehrheitsgesellschaft ist alles andere als ein „guter Demokrat“. Sie verhält sich mehr als gnadenlos gegenüber jenen Menschen mit anderer Meinung. Wer sich nicht für die durch Flüchtlinge entstehende „bunte Gesellschaft“ ausspricht, der wird sozial geächtet. Mit der Würde des Menschen und dem Recht auf eigene Meinung hat das nichts zu tun. Unsere Mehrheitsgesellschaft produziert damit reihenweise soziale Sonderlinge und merkt es nicht. Sie wundert sich über fast schon zwangsläufig schreckliche Nachrichten und meint dann, der Handlungsbedarf läge auf der Seite der Sicherheitsbehörden. Was für ein Trugschluss!

Passend zum Beitrag ist, dass nach der Bürgerschaftswahl in Hamburg ein interviewter Politiker folgenden Satz sagte: „Wie sind gute Demokraten. Wir akzeptieren natürlich das Votum der Bürger.“ Passend ist der Satz deswegen, weil er von einem SPD-Politiker stammte und die SPD die Wahl mit deutlichem Vorsprung gewonnen hatte. Sind wir also wirklich so „gute Demokraten“? Nein wir sind es nicht und wir werden es auch nicht werden.

Auch, wenn die Bundeskanzlerin die hier behandelte Entscheidung getroffen hat, gibt es selbstverständlich keinen Grund, sie als Person anzugreifen. Nach allem, was man weiß, kommt die Bundeskanzlerin aus einem religiös geprägten Familienumfeld. Es ist nicht auszuschließen, dass für sie der Aspekt der Menschenliebe ein wichtiges Entscheidungskriterium war. Und selbst dann, wenn man persönlich der Meinung ist, dass Menschenliebe nichts in der Politik zu suchen hat, sondern in den persönlichen Bereich der Menschen gehört, ist das kein Grund die Person der Bundeskanzlerin verbal herabzuwürdigen. Man kann mit ihrer Entscheidung inhaltlich hadern aber man sollte die unsere Demokratie repräsentierende Entscheidung nicht mit dem Menschen, der sie getroffen hat, gleichsetzen.

Aus den beiden behandelten Beispielen wird für mich deutlich, dass es im Ergebnis gar keinen Unterschied macht, ob ein ganzes Volk demokratisch entscheidet oder ob eine demokratisch gewählte Repräsentantin eines ganzen Volkes, also nur eine einzige Person, entscheidet. Es war beides gleich ungünstig. Das ungünstige Moment hatte auch nicht mit bestimmten Personen zu tun. Wir können die Personen alle nahezu beliebig austauschen. Das Problem wäre das gleiche. Es macht demnach überhaut keinen Sinn, einzelne Personen persönlich anzugreifen. Beschäftigen müssen wir uns vielmehr mit dem Element der Mehrheitsentscheidung, das Demokratien nun mal kennzeichnet und das ein enormes Spaltungspotenzial für eine Gesellschaft in sich birgt und damit gerade nicht für fortdauernden gesellschaftlichen Frieden steht. Wir sind arm dran, wenn sich diejenigen zu den Schützern der Demokratie aufschwingen, die im Lager der siegreichen Mehrheit stehen. Reich sind wir erst, wenn es auch die anderen aus freien Stücken und mit Fröhlichkeit machen. Wir machen einen Fehler, wenn wir danach rufen, dass die bestehende Demokratie gestärkt werden sollte, anstelle uns damit zu beschäftigen, wie wir Demokratie so verändern können, dass sie für die Menschen befriedigende Lösungen für sich in Friedenszeiten immer mehr zuspitzende Polarisierungsthemen zur Verfügung stellt.

Wir werden wieder auf dieses Thema zurückkommen. Um den Umfang des Beitrags nicht zu sprengen, machen wir jetzt erst mal Schluss.

Thomas Guldenkirch (02. März 2020)