Eigentlich wären wir gut beraten, uns die Frage zu stellen, wie weit wir eigentlich gekommen sind. Sagen wir, vom Ende des zweiten Weltkries an, denn von da ab lebten wir in einer Demokratie. Unsere Politiker werden schließlich nicht müde, uns zu erklären, dass die Demokratie für uns gut wäre und es sich für uns lohnen würde, täglich für die Demokratie zu kämpfen. Freilich sind die Argumente, die sie für die Vorzüge der Demokratie ins Feld führen, manchmal nicht so richtig prickelnd.
Nicht falsch verstehen! Dies ist kein Artikel gegen die Demokratie und auch kein Aufruf, sie zu beenden. Dies ist nur eine persönliche Betrachtung unserer gesellschaftlichen Erfolgsbilanz.
Also, wie weit sind wir in mehr als Siebzig Jahren Demokratie gekommen?
Sind wir alle weitgehend gleich oder spaltet sich unsere Gesellschaft mehr denn je in arm und reich auf?
Sind wir alle sehr gebildet oder gibt es ein hohes Maß an Analphabetentum? Sind wenigstens die Abiturienten sehr gebildet oder fehlt es selbst vielen Abiturienten inzwischen in einem erschreckenden Ausmaß an elementaren Kompetenzen?
Hat sich unsere sprachliche Ausdrucksfähigkeit im Allgemeinen verbessert oder eher verschlechtert?
Haben in unserer Gesellschaft alle Erwachsenen eine Arbeit oder gibt es in einem nennenswerten Umfang auch arbeitslose Menschen?
Sind in unserer Gesellschaft alle Menschen eingebunden oder gibt es auch viele, die am Rand der Gesellschaft stehen?
Sind wir alle gut und richtig ernährt oder gibt es inzwischen auch viele Übergewichtige?
Sind weitgehend alle Menschen zufrieden mit den politischen Entscheidungen, die ihr tägliches Leben prägen oder haben auch viele Menschen einen regelrechten Hass auf das, was die Politiker für sie entscheiden?
Lebt unsere Gesellschaft im inneren Frieden oder ist sie eher gespalten in eine linke und eine rechte Gesinnung?
Leben wir weitgehend im Einklang mit der Natur oder zerstören wir viele natürliche Lebensräume und viele Arten?
Leben wir weitgehend geborgen in unseren Familien oder kennzeichnet unsere Gesellschaft das Alleinsein?
Leben wir überwiegend, um das Leben an Andere weiterzugeben oder überwiegend nur, um uns selbst zu verwirklichen?
Leben wir überwiegend entspannt und zufrieden oder überwiegt Stress, Gehetztsein und persönliche Unzufriedenheit?
Kümmert sich in unserer Gesellschaft jeder um jeden oder leben wir eher entfremdet und lassen das Kümmern den Staat und andere Institutionen erledigen?
Sind wir so beziehungsfähig, dass die lebenslänglichen Ja-Wörter, die wir uns geben, halten oder scheitern wir in großer Zahl in unseren Beziehungen?
Wachsen unsere Kinder in der Geborgenheit elterlicher Liebe auf oder müssen viele Kinder es hinnehmen, dass ihnen diese Liebe an vielen Stunden des Tages entzogen wird?
Sind die allermeisten Menschen psychisch gesund oder leiden inzwischen sehr viele Menschen unter psychischen Störungen?
Leben wir alle friedlich zusammen oder gibt es in unserer Gesellschaft viel gegenseitige Gewalt?
Nehmen wir alle aufeinander Rücksicht und respektieren wir uns alle gegenseitig oder überwiegt in unserer Gesellschaft die Rücksichtslosigkeit und Respektlosigkeit?
Streben wir überwiegend nach Gemeinsamkeiten oder ist unser großes Ziel die Individualität und die Unterschiedlichkeit gegenüber anderen?
Leben wir weitgehend nachhaltig oder steht bei uns der Verbrauch von ressourcenverschleudernden Konsumgütern im Vordergrund?
Hat uns der digitale Fortschritt menschlich vorangebracht oder hat unsere Menschlichkeit durch die Digitalisierung eher gelitten?
Haben wir unsere Mitmenschen wirklich im Blick oder schauen wir eher nur auf uns selbst?
Leben wir in einer Gesellschaft, die ihre Kraft aus der eigenen Erneuerung schöpfen kann oder sind wir für unser Überleben auf den Zuzug aus anderen Ländern und Kulturkreisen angewiesen?
Sind wir inzwischen überwiegend glücklich oder gibt es diese unerfüllte Sehnsucht nach dem Glück bei vielen immer noch?
Sicher haben sie die Fragen für sich beantwortet. Bei mir fällt die Bilanz nicht besonders rosig aus. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir nicht nur nicht vom Fleck gekommen sind, sondern hier und da sogar Rückschritte gemacht haben könnten. Wie kann das sein, wo wir doch die Demokratie und viele kluge Politiker und Amtsträger haben? Und wie gut sind unsere Aussichten darauf, dass es mit einem fröhlichen Weiter so besser wird? Oder ist gar alles unveränderlich, ganz egal, was wir tun? Wir sollten zumindest mal darüber nachdenken. Vielleicht könnte das Ergebnis dieses Nachdenkens sein, dass es sich nicht immer rentiert, dem heilversprechenden Zeitgeist hinterherzulaufen. Vielleicht ist das Ergebnis des Nachdenkens aber auch nur, dass die falschen Fragen gestellt worden sind.
Thomas Guldenkirch (21. Februar 2020)