16- Merkwürdiges Demokratieverständnis

In Deutschland kam es in den letzten Tagen vermehrt zu Demonstrationen gegen die Corona-Auflagen, durch die die Freiheit der Menschen beschnitten wird und die auch für viele Menschen entgegen den Bekundungen von Politikern den Verlust des Arbeitsplatzes und den finanziellen Ruin bedeuten. Einige der Demonstrationen sollen aus dem Ruder gelaufen sein, weil die Demonstranten den Corona-Sicherheitsabstand von 1,5 Metern untereinander und gegenüber anderen nicht eingehalten haben und weil zu den Demonstrationen auch viel mehr Menschen gekommen sind, als von den Veranstaltern angemeldet worden waren. Auch für dieses Wochenende sind wieder Demonstrationen angekündigt worden. Die Stadt München will die zentrale Demonstration nur auf der abgegrenzten Fläche der Theresienwiese und nur mit einer stark begrenzten Teilnehmerzahl zulassen und mit der Polizei für die Einhaltung der 1,5 Meter-Abstandsregel sorgen.

Es ist für mich nur schwer nachzuvollziehen, wenn man den Demonstranten mit staatlicher Gewalt während der Demonstration genau das abverlangt, wogegen diese demonstrieren. Besser kann man nicht zum Ausdruck bringen, dass man in den Demonstrationen nur ein lästiges Übel sieht, das es unter Einhaltung der selbst gesetzten Regeln zu überstehen gilt. Das gilt umso mehr, als es in den letzten Tagen viele Fotos von Politikern gegeben hat, auf denen zu sehen war, dass sich diese in ihrem Tagesgeschäft auch nicht an die Hygieneregeln halten und zum Beispiel den Sicherheitsabstand von 1,5 Metern zu anderen gerade nicht einhalten. Das gilt für mich auch deswegen, weil es in der Bayerischen Corona-Verordnung nur heißt, dass der Abstand von 1,5 Metern nur dort, wo möglich, einzuhalten ist und man darüber zweifeln kann, ob der Staat die Erlaubnis hat, die Demonstrationen so zu verändern, dass sie unter diese Regel fallen. Sei es wie es sei.

In den Medien wurden die Demonstrationen primär unter dem Gesichtspunkt behandelt, wer auf den Demonstrationen anwesend war und dabei hervorgehoben, dass unter den Demonstranten neben Corona-Chaoten auch bekannte Rechtsradikale und Verschwörungstheoretiker gesichtet wurden. Damit wurden die Demonstrationen medial überwiegend dem rechten Spektrum zugeordnet. Die Berichterstattungen wurden ergänzt durch Beiträge von Wissenschaftlern, die ebenfalls die Gefahr, dass die Demonstrationen von rechtsextremen Gruppierungen für deren politische Zwecke instrumentalisiert werden könnten, in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellten. Die mediale Verbannung der Demonstrationen in die rechte Ecke hatte sogleich parteipolitische Folgen, weil ein seit kurzem überregional bekannter FDP-Politiker auf einer Kundgebung ohne Mundschutz neben einem AFD-Politiker gesichtet worden war und dafür sogleich von seiner Parteiführung abgekanzelt worden ist. Ich will das nicht weiter kommentieren. 

Soweit man in den Medien anmerkte, dass auf den Demonstrationen auch Normalbürger gewesen sind, wurde nach bekanntem Muster davon berichtet, dass es diesen nur darum gegangen sei, ihre Ängste und Befürchtungen zu bekunden und dass man diese Angstbekundung nicht schlecht heißen dürfe.

Inzwischen haben auch führende Politiker in das mediale Horn gestoßen. Der bayerische Ministerpräsident hat erklärt, dass er zwar Verständnis für Demonstrationen von Menschen hat, die die Corona-Maßnahmen hart treffen, aber nicht für Demonstrationen von Verschwörungstheoretikern. Der Münchner Oberbürgermeister hat erklärt, dass er das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (angeblich) hoch halte aber besorgt sei, dass rechtsextreme Kräfte diese Demos dazu nutzen würden, ihre Themen hoffähig zu machen.

Für mich persönlich zeugen die Berichte in den Medien und die Einlassungen der Politiker von einem sehr merkwürdigen Demokratieverständnis.

Eine Demonstration ist eine Meinungsbekundung! Es ist keine Bekundung von Ängsten und Befürchtungen. Es ist im konkreten Fall die Bekundung der Meinung, dass man die politischen Anordnungen in Bezug auf das Corona-Virus ablehnt und für falsch hält. Die Bekundung dieser Meinung ist das gute Recht eines jeden einzelnen Demonstranten und einer jeden einzelnen Demonstrantin. Und diese Meinung ist genauso richtig oder falsch wie die Meinung jener, die die Lockdown-Maßnahmen angeordnet haben oder sie gut heißen. Wann endlich lernen wir wieder, Meinungen als Meinungen zu akzeptieren und sie nicht als bloße Ängste und Befürchtungen zu diskreditieren, weil sie uns vielleicht nicht passen?

Wer an einer Demonstration teilnimmt, ist komplett irrelevant. Wer sich auf einer Demonstration der dortigen Meinungsbekundung anschließt, der erklärt sich in gleicher Weise wie die übrigen Demonstranten. Nicht mehr und nicht weniger. Alle Demonstranten und Demonstrantinnen haben das Recht auf Akzeptanz ihrer Meinung unabhängig von ihrer Person, Herkunft, politischen Gesinnung etc.. Wenn wir die Meinungsbekundung eines Demonstranten in Verbindung mit seiner Person bringen, dann akzeptieren wir sie nicht bzw. nur dann, wenn uns die Person passt. Das ist für mich eine Missachtung der Grundrechte auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 GG) und auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG)! Mit anderen Worten: Wir haben uns nicht dafür zu interessieren, wer auf eine Demonstration geht, sondern nur dafür, welche Meinung dort geäußert wird. Selbst, wenn ein Vielfachstraftäter für die Abschaffung des Strafrechts demonstriert, haben wir das zu akzeptieren und können ihm diese Meinungsfreiheit nicht abschneiden. Jeder Mensch muss auch das Recht haben, sich einer Demonstrationsmeinung anzuschließen und wir haben uns nicht darum zu kümmern, warum er das macht. Wenn wir uns nur für Mainstream-Demonstrationen aussprechen, auf denen die unserer Meinung nach „richtigen“ Personen demonstrieren, dann haben wir möglicherweise etwas nicht verstanden und dann huldigen wir möglicherweise einer Demokratie, die wir in Wirklichkeit gar nicht praktizieren.

Die Medien haben von Anfang an nur im Sinne einer Akzeptanz der politischen Maßnahmen in der sogenannten Corona-Krise geschrieben. Die mediale Meinung war einseitig auf der Seite der handelnden Regierungen. Das hatte möglicherweise auch zur Folge, dass sich alle Parteien dem medialen Mainstream angeschlossen und aus dem medialen Mainstream einen politischen Mainstream gemacht haben. Erst langsam und sehr zögerlich haben sich anderslautende Stimmen zu Wort gemeldet, als immer offensichtlicher wurde, dass die Politik möglicherweise für einen gesellschaftlichen Kollateralschaden steht, der nicht durch die Rettung von weiterer Lebenszeit Einzelner aufgewogen werden kann.

Es fällt den Medien sicherlich schwer, auf eine berechtigte anderslautende Meinung hinzuweisen und zu akzeptieren, dass es mit guten Gründen die Meinung geben kann, dass der von den Regierungen eingeschlagene Weg möglicherweise immer schon falsch war.

Niemand von uns kann für sich in Anspruch nehmen, genau zu wissen, was richtig oder falsch ist. Das Grundgesetz stellt den Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit nicht über den Schutz der Freiheit. Genau genommen heißt es in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG sogar, dass die Freiheit einer Person überhaupt nicht verletzt werden darf. Der Schutz von Leben und Gesundheit und die Unverletzlichkeit der Freiheit stehen damit mindestens gleichberechtigt nebeneinander. Wenn der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit über allem anderen stehen würde, dann dürfte es in unserer Republik keine Kinder geben, die auf dem Weg in die Schule im Straßenverkehr sterben. Dann dürfte es in unserer Republik nicht nur kein Fahren auf Autobahnen ohne Tempolimit geben, sondern gar keinen Autoverkehr mehr, denn das Sterben von Menschen durch den Autoverkehr ist an der Tagesordnung.  Dann dürfte es bei uns auch keine alkoholkranken Menschen geben, die aufgrund des mit Erlaubnis des finanziell beteiligten Staates krankhaft Alkohol konsumieren und daran in großer Zahl sterben. Dann dürfte es überhaupt Niemanden geben, der an etwas grundsätzlich Vermeidbarem stirbt.

Die Aussage, dass die Corona-Maßnahmen zwingend zum Schutz von Leben und Gesundheit notwendig waren, kann also nicht stimmen. Die politischen Maßnahmen waren deswegen alles anderes als alternativlos.

Nach meinem Eindruck zeugen die Anordnungen der regierenden Politiker und die Zustimmung der nicht regierenden Politiker davon, dass man persönliche Verantwortung und mediale Angreifbarkeit dadurch vermeiden wollte, dass man das befolgt hat, was Virologen und Epidemiologen vorgegeben haben. Das war der einfachste und in Bezug auf die eigene Person der gefahrloseste Weg. Dabei hat man aber fast alles geopfert, was nach meinem Dafürhalten unsere Gesellschaft eigentlich ausmachen sollte:

1.) Die grundlegende Akzeptanz, dass das Leben für jeden von uns jeden Tag lebensgefährlich ist und dass es keine Aufgabe der Gesellschaft sein kann, so zu leben, dass jeden Tag jedes Leben gerettet wird.

2.) Die grundlegende Einstellung, dass eine Gesellschaft auch auf dem Prinzip der Eigenverantwortung eines jeden Einzelnen funktionieren kann, wenn man sie dazu motiviert;

3.) Das grundlegende Verständnis, dass ein Staat das gesellschaftliche Leben weder auffangen, noch ersetzen kann und dass die Ideologie, dass der Staat mehr ausgeben sollte, als er hat, nicht funktionieren kann, weil sie nicht mit dem Verhalten, dass man jedem Einzelnen jeden Tag abverlangt, in Einklang steht und deswegen als verlogen empfunden wird;

4.) Die grundlegende Entscheidung dafür, dass man auf dieser Welt nur dann überleben können wird, wenn man endlich anfängt, auch politisch mit den vorhandenen Ressourcen auszukommen und zwar auf jedem politischen Feld. Wer Billionen Euro Schulden macht, der lebt auch ansonsten über seine ihm zustehenden Verhältnisse. Es macht keinen Unterschied, ob wir auf Kosten der Welt oder auf Kosten den zukünftigen Generationen leben. Wir machen in beiden Fällen etwas, was wir nicht verantworten können;

5.) Die grundlegende Erkenntnis, dass es einen Verlust an Glück für eine Gesellschaft darstellt, wenn sie nicht gemeinsam gute und schlechte Zeiten erleben darf und nicht die Möglichkeit bekommt, mit gesellschaftlichen (nicht mit politischen!) Mitteln für das Erreichen von guten Zeiten zu kämpfen.

Die Corona-Maßnahmen können Politiker und einzelnen Menschenleben schützen. Überzeugen können sie möglicherweise aber nicht. Vielleicht leben wir gar nicht in der Demokratie, die es nach dem Grundgesetz eigentlich sein sollte, sondern in einem Staat, in dem eine von Tendenzen geprägte Berichterstattung einen etablierten politischen Arbeitsapparat vor sich hertreibt und in dem die etablierten Parteien ihr Handeln danach ausrichten, wie sie selbst überleben können und nicht danach, wie unsere Gesellschaft sich unter Inkaufnahme von Chancen und Risiken sinnvoll weiterentwickeln kann. Das ist kein Grund, über einzelne in der Öffentlichkeit stehende Menschen zu urteilen, sondern ein Grund nachzudenken.

Thomas Guldenkirch (16. Mai 2020)